Vom „alten“ Europa und der „neuen Welt“

Wir betrachten unser entstehendes Europa als „Region menschlicher Hoffnung“ das Modell stehen könnte für die Welt.  Doch wie sieht das entstehende Europa aus? Wie sieht das Europa unserer Träume aus? Wir träumen von einem Europa der Werte, einem geistigen Band zwischen seinen mehr als 300 Millionen Menschen, das ihnen erlaubt in Frieden zu leben und die kulturellen Unterschiede zu respektiert. Das entstehende Europa wird sich entscheiden müssen zwischen einer Marginalisierung im Schatten der USA oder einer Emanzipation von der Weltmacht mit einem „weltpolitischen Gestaltungswillen“. Mein Europa verdient ein besseres Schicksal als ein abhängiger Partner einer Nation zu werden, in der die freie Marktwirtschaft rücksichtslos ohne Netz und doppelten Boden regiert.

Europäische Identität durch Abgrenzung

Eine solche Emanzipation von Amerika gelingt am ehesten, wenn man sich über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der neuen und der alten Welt bewußt wird. Durch einen Vergleich und in der Auseinandersetzung wird die europäische Identität sichtbar.

Die neue und die alte Welt, bzw. die europäische und amerikanische Kultur sind von Grund auf verschieden. Dieser Gedanke mag vielleicht zunächst überraschen, da man im öffentlichen und politischen Diskurs noch immer von gemeinsamen Werten – der westlichen Zivilisation – spricht. Vor allem nach dem 11. September, den man auch als Angriff auf die gesamte westliche Zivilisation gewertet hat. Somit die Teilung der Welt in die zivilisierte und barbarische Welt vorgenommen wurde, wobei sich die Europäer und die US-Amerikaner getrost zur zivilisierten Welt zählen dürfen. Wir gehören also beide dieser zivilisierten Gemeinschaft an, doch was sind ihre Gemeinsamkeiten? Was sind die Unterschiede? Was macht diese Zivilgemeinschaft aus? Zunächst jedoch zurück zur Ausgangsthese:

Die USA haben komplett andere Werte als Europa. Sie haben, seid die ersten Siedler ihren Fuß auf den Boden gesetzt haben, eine andere Kultur und Politik gelebt, die mit der europäischen nicht viel gemein hat. Die USA und Europa haben andere Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Leben gemacht.

Neoliberalismus versus Solidargemeinschaft

In der neuen Welt, sollte alles anders werden. Deshalb hat die USA schon von Beginn an mit der europäischen Tradition gebrochen, waren selbstbewußt und propagierten ein jugendliches „anything goes“. „Jeder kann es in den USA vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen“ so behauptet zumindest der amerikanische Gründungsmythos, der amerikanischen Traum. In der „Neuen Welt“ ist jeder seines Glückes Schmied. Dieser Gründungsmythos und dieses Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenleben, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist und sonst für niemanden, ist ein sehr jugendliches Verhalten, da es jede Verantwortung für andere, gesellschaftlich legitimiert, von sich weisen kann.

Diesem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit und des neoliberalen Wirtschaftssystem stellt Europa das Prinzip der staatlichen sozialen Verantwortung seinen Bürgern gegenüber – eine soziale Marktwirtschaft, die versucht einen Raubtier – Kapitalismus zu zügeln. Im Zuge der Globalisierung und durch die Entstehung weltweit agierender Konzerne fällt die Verteidigung dieser Errungenschaft zunehmend schwerer.

Dieser Ethos der US-Amerikaner setzt sich in der amerikanischen Außenpolitik fort. Auch sie ist geleitet von dem Gedanken eigene Interessen durchzusetzen, unbeeindruckt was die Weltgemeinschaft davon hält. Viele Versuche die USA in internationale Abkommen mit einzubeziehen, etwa beim Klimaschutz oder beim Internationalen Strafgerichtshof, sind gescheitert.

Nur wenn der Peergroup, dem amerikanischen Volk, von außen eine Gefahr droht, sei es durch eine Naturkatastrophe, oder sei es durch andere Verletzung von außen, wie beim 11. September kann das amerikanische Volk einen Zusammenhalt, so etwas wie eine Solidargemeinschaft entwickeln, die der Konsistenz von Pech und Schwefel nahekommt, und die Gefahr eines bedrohlichen Patriotismus birgt. Ein Sozialmodel, wie es Europa kennt, gibt es in Amerika nicht.

Diese amerikanische Grundhaltung, die natürlich auch eine unbändige, jugendliche Kraft birgt, führte zu einem dynamischen und chaotischen Wirtschaftswachstum. Chaotisch weil viele Folgen des Wachstums nicht einkalkuliert sind und weil dieser Kapitalismus wie ein zügelloses Wildpferd ist.

Dieses zügellose System überträgt sich durch die Globalisierung in alle Teile der Welt. Dieses Wirtschaftswachstum ist aber nicht nachhaltig, da es rein Profit orientiert ist und Schäden, die es der Natur, dem Menschen und dem sozialen Miteinander zufügt in seine Bilanzen nicht mit ein berechnet.

Ökonomische Nutzenorientierung versus Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit

Gepaart ist diese Wirtschaftswachstum mit dem Denken: nach mir die Sintflut! Die Folgekosten trägt die Menschheit. Somit ist das amerikanische Zeitgefühl ein eher kindliches Zeitgefühl, da es ein kurzfristiges ist. Konsequenzen für das eigene Handeln werden nicht mit gedacht, wie man es von erwachsenen Menschen erwarten würde, sondern es ist geleitet von reinem, kurzfristigen Profitdenken.

Auch der amerikanischer Wahrheitsbegriff ist ein utilitaristischer, nutzenorientierter. Es ist kein aristotelischer Wahrheitsbegriff, wonach wahr ist, was nach objektiven Kriterien wahr ist. Dieser entspricht möglicherweise eher einem europäischen Wahrheitsbegriff. Alles, auch die Wahrheit scheint  in den USA durch wirtschaftliche Maximierungsprinzipien und Wachstumsprinzipien bestimmt, vieles andere bleibt auf der Strecke. Privatleben, soziale Beziehungen, Schönheit – alles wird nach ökonomischen Nutzen maximiert! Nur Kassenschlager sind gute Filme, andere Kriterien und Werte scheinen einer amerikanischen Beurteilung nicht zu Grunde zu liegen.

Die Erfahrungen der täglichen kulturelle Praxis prägt das Bewußtsein. So ist es ein Unterschied, ob ich als Kind mit Softdrinks aus Automaten groß werde oder noch erfahre wie Trauben in einer Kelterei gekeltert werden, um anschließend frischen Traubenmost zu trinken. Diese Erfahrungen prägen das Verhältnis zur Natur, mehr als viele Appelle. Dieses Wissen und diese kulturelle Praxis ist in Amerika verkümmert, bzw. wird auch als eigener Wert nicht anerkannt und  nicht geschätzt, sondern es wird auf einen Fortschritt gesetzt, der versucht sich über die natürlichen Gesetze zu erheben. Die Quittung und die Kosten, die Amerikaner für eine solche kulturelle Praxis zahlen, zeigen sich in der chronischen Fettleibigkeit der amerikanischen Bevölkerung und in anderen Formen der falschen und ungesunden Umgang mit sich selbst. Im Konsum, in jeglicher Form, auch medial, wird die kulturelle Praxis der Amerikaner am deutlichsten. Die Amerikaner haben nie gelernt Maß zu halten. Vielleicht ist das richtige Maß halten durch die antiken Philosophen in europäische kulturelle Praxis eingedrungen.

US amerikanisch bedeutet, das Elemente aus einer Kultur und Tradition übernommen werden und dann durch ihr wirtschaftliches System maximiert werden, so stark jedoch, dass das ursprüngliche, ganzheitliche und nachhaltige Prinzip der ursprünglichen Kultur nicht mehr sichtbar ist, zumindest nicht mehr im kollektiven Bewußtsein präsent oder noch nie dagewesen war. Im Bereich der Eßkultur wird diese amerikanische Übernahme und Verfremdung am deutlichsten: Alle kulinarischen Einflüsse werden in den USA aufgenommen, was zu diesem „melting pot“ Charakter führt und dann jedoch nach ihren eigenen Kriterien umgewandelt. Der klassischen Cappuccino mit geschäumter Milch und Espressokaffee, wird umgewandelt in ein Pulver, dass man mit heißem Wasser aufbrühen kann. Das alles dann im 10-er Pack. Nuancen der ursprünglichen Zubereitung, Zusammensetzung der Inhaltsstoffe, Herkunft der Bestandteile, eigentlicher Verwendungszweck werden zurückgedrängt und unkenntlich gemacht – entfremdet.

Diese Entwicklung bringt es auch mit sich, dass sich die USA um eine Einschränkung ihres Ressourcenverbrauchs keine Gedanken machen. Getreu nach dem Motto: „Die Pizza kommt doch aus der Tiefkühltruhe! Da sind ja noch genug!“ Die Amerikaner hingegen machen sich über ihren Ressourcenverbrauch relativ wenig Gedanken. Sie sind stattdessen weiterhin damit beschäftigt, wie zu alten Goldgräberzeiten, ständig neue Quellen aufzutun, wie sich auch in der eigentlichen Motivation der letzten beiden Irakkriege zeigte. So scheinen sämtliche Bereiche in der amerikanischen Gesellschaft  von einem wirtschaftlichen Kalkül bestimmt zu sein.

Ignoranz und Arroganz versus Selbstzweifel und Selbstfindung

Die Amerikaner haben sehr selbstbezogene Werte und ein Selbstverständnis und eine Überzeugung von sich, mit ihrem „way of life“ die Menschheit beglücken zu können und zu müssen. Dem ist aber nicht so. Dazu sind die Mißstände im eigenen Land, trotz kriegs- und steuersenkungsbedingtem Wirtschaftswachstum zu offensichtlich. In der medizinischen Versorgung der amerikanischen Bevölkerung tut sich eine Kluft der sozialen Ungleichheit auf, denn nur wer reich ist kann sich eine medizinische Grundversorgung leisten, alternative Medizin tun sich schwer, da alles der Diktatur des Geldes unterliegt. In Amerika herrscht eine der weltweit höchsten Kriminalitätsraten, weil die Menschen in Amerika lieber schneller ziehen als sich auf die langsamen Mühlen der Gesetze zu verlassen, was sich auch in der Weltpolitik zeigt. Das Thema Energie und Umwelt wird in den USA komplett ignoriert. Als das Land mit dem höchsten Pro Kopf Ressourcenverbrauch und somit der weltweit höchsten Belastung für die Welt, zeigt sich Amerika in diesem Punkt vollkommen ignorant. Dieser offenbare Widerspruch und ignorante Haltung gegenüber dem Rest der Welt, können die USA dann offenbar trotzdem wunderbar mit ihrer friedensbringenden Mission in Einklang bringen. Das heutige Europa ist trotz zahlreicher Errungenschaften voller Selbstzweifel. Europa, das schon jetzt für viele Länder Modell steht, ist sehr selbstkritisch und neigt eher zur Unzufriedenheit. Möglicherweise liegt eine Ursache dafür darin, dass Europa sich in einem Entstehungsprozeß befindet und hinterfragt immer wieder das Erreichte. Die von Amerika gelebten Maxime scheinen dagegen unantastbar und nicht anzuzweifeln.

Religion, Recht und Moral

Vielleicht ist es doch das Christentum, was Amerika und Europa miteinander verbindet und eine gemeinsame ethische Brücke zwischen der alten und der neuen Welt baut. Doch auch hier scheinen unterschiedliche Interpretationen der Bibel und Vorstellungen vom Christentum vorzuliegen. In den USA wird das Kreuz prozessierend als politische Legitimation für Kriege vor sich her getragen, und in öffentlichen Reden werden sehr fragwürdige Bibelzitate aus dem Alten Testament verwendet, wie Auge um Auge, Zahn um Zahn, um gegen die barbarische Welt vorzugehen. Unrecht wird mit etwas Unmoralischem legitimiert. Ebenso die beiden viel zitierten Achsen des Bösen und die Achse des Guten. Wer solche Wertungen verkündet, muss von seiner eigenen Mission im Namen des Guten tief überzeugt sein. In Europa hat sich ein anderes Rechtsverständnis durchgesetzt, das mit dem in den USA von höchster Stelle verbreiteten, nichts zu tun hat. Europa sieht sich zwar selbst zwar auch als christlichliche Wertegemeinschaft, hat jedoch die Trennung von Staat und Religion bereits vollzogen und sich längst den Menschenrechten verschrieben. In den USA ist die Rechtssprechung machtpolitisch orientiert. Einzelfälle werden geregelt, geschlichtet, und daraus ergibt sich eine pragmatische Rechtssprechung. In Europa spielt in der Phase der Gesetzgebung Moral und Religion eine wichtige Rolle. Nach Verabschiedung sind Recht und Moral streng getrennt. Auch der moralisch Verwerfliche hat Anspruch auf Ausschöpfung sämtlicher Rechtsmittel. Amerikaner fühlen sich durch solche Gesetzessysteme in ihrer Freiheit eingeschränkt. Die europäischen Nationen sind staatspolitisch, die USA jedoch religiös begründet. In weiten Bereichen, nicht nur im Sozialen und Gesellschaftlichen, nehmen in den USA die kirchlichen Gemeinschaften die Stellung ein, die in Europa dem Staat zukommt.

Erfahrung und Tradition versus historischer Blindheit und Leben im Hier und Jetzt

Der amerikanische Traum oder sagen wir besser Alptraum hat mit dem europäischen Sinn von Gesellschaft und Gemeinschaft sehr wenig zu tun.

Im Vergleich zu den USA scheint Europa entwickelt und gereift. Europa kann auf eine gewachsene Kultur zurückblicken, Europa hat Erfahrungen gemacht, schmerzhafte Erfahrungen, wie die Kriegserfahrungen, die sich im kollektiven Bewußtsein eingegraben haben. Europa hat daraus gelernt, dass eine Gemeinschaft, ein Solidarsystem, nachbarschaftliches Miteinander, soziale Beziehungen einen Mehrwert für eine Gesellschaft hat. Europa hat in seinem Heranwachsen gelernt, das die Anerkennung von Menschenrechten und die Trennung von Staat und Religion unabdingbar sind für ein langfristiges, friedliches Zusammenleben.

Doch diese Werte gilt es im Zuge der Globalisierung zu verteidigen. Auch in Europa machen sich schon seit längerer Zeit amerikanischer Wirtschaftsprinzipien breit, wie bsp. „hire and fire“ und „lean production“. Europa hat eine lange Tradition in der Auseinandersetzung von Arbeit und Kapital, im Aufbau von humanen, familären Betriebsstrukturen und auch in vielen anderen Lebensbereichen gesammelt. Darüber hat sich auch eine gewisse Grundhaltung und eine Verantwortung dem Leben gegenüber entwickelt, die im Zuge der Globalisierung angegriffen und untergraben werden.

Es hat den Anschein, dass die USA das alles nicht sehen und wahrhaben wollen. Europa hat durch die Europäische Union, die Errichtung eines supranationalen Interessenregulierungssystems etwas zu bieten, was Model stehen könnte für internationale Interessenkonflikte. Auch in der Entwicklungshilfe, im Aufbau internationaler Hilfsorganisationen ist Europa Vorreiter. Auch die Beteiligung am Wiederaufbau des Irakkriegs spricht für das europäische Selbstverständnis, obwohl Europa diesen Krieg nie wollte, zeigt es sich verantwortlich.

Diese Formen der Auseinandersetzung und Regulierung haben sich durch das menschliches Zusammenleben und Erfahrungen in vielen Bereichen und durch politische Auseinandersetzungen institutionalisiert. Die USA können diese reifen, zukunftsgerichteten Entwicklungslinien und Modelle nicht anerkennen, weil ihnen die dafür notwendigen alltäglichen Erfahrungen und der Lebensstil, die dafür notwendige Lebensphilosophie fehlt, bzw. weil sie nicht das kritische Reflexionsvermögen haben. In der amerikanischen Öffentlichkeit werden zum größten Teil all diese negativen Erscheinungen konsequent ausgeblendet. Ein aufgeklärter, kritischer Geist wäre Sand im neoliberalen Getriebe.

Europa steht für bestimmte Werte, die auch ihr eigentlicher Exportschlager sind. Ihr Wissen und ihre Kultur. Das europäische Zeitverständnis ist ein langsameres, vielleicht weil es auf eine Tausende von Jahren alte Geschichte zurückblicken kann, weil es Philosophen hatte, die schon in der griechischen Antike auf das richtige Maß halten hingewiesen hatten. Sie gaben den Europäern auch ein Verständnis dafür, daß sich die existentiellen Grundfragen des Lebens, trotz Fortschritt und technischen Errungenschaften nicht grundlegend geändert haben.

Das amerikanische Selbstverständnis als Weltpolizei und der Versuch komplexe weltpolitische Probleme mit einfachen Lösungen zu lösen, entspringt einem jugendlichem Narzismus. Ohne die Weltgemeinschaft als Partner auf ihrer Seite, glauben sie ihren Alleingang durchziehen zu können. Die USA sehen ihre Aufgaben als Weltpolizei immer noch in militärischen Lösungen, dem steht Europa gegenüber mit einem anderen Verständnis: Make law, not war! Europa muß der Mc Donaldisierung der Welt mit einer Cappuccinosierung entgegentreten, sonst setzt sich der „American way of life“ mit all seinen Nachteilen weltweit durch. Im Vergleich Europas und den USA wird sichtbar, was sich hinter einer europäischen Identität verbirgt. Als Europäer fühlen wir uns im Vergleich zur „Neuen Welt“, die hoffentlich nicht zur Huxleys „Schönen neuen Welt“ wird, trotzdem nicht alt, vielleicht reif, frisch zur Ernte bereit und stehen Modell für weite supranationale und internationale Konfliktlösungen in Form von Dialogen und Verträgen.