Don Carlo – Eine Oper als politisches Beben-

Verdis düstere Machttragödie trifft in Berlin den Nerv der Zeit – musikalisch überwältigend, inszenatorisch beklemmend aktuell, emotional tief bewegend.

Es war einer dieser Abende, an denen Musiktheater mehr leistet als Unterhaltung. Die aktuelle Repertoireaufführung von Giuseppe Verdis Don Carlo an der Deutschen Oper Berlin entfaltet eine Wucht, die weit über das Ästhetische hinausreicht. In einem Europa, das sich zunehmend mit geopolitischen Spannungen, autoritären Strukturen und einem diffusen Freiheitsbegriff konfrontiert sieht, wirkt Verdis Werk wie ein moralisches Erdbeben – laut, traurig, visionär.

Ein Bühnenbild wie ein Monument der Macht

(C)B.Aumueller/www.szenenfoto.de

Bereits das Bühnenbild von Marco Arturo Marelli setzt den Ton: mobile, anthrazitfarbene Steinquader türmen sich zu Kathedralen, Kerkern, Gräbern – Symbolen für eine Welt, in der religiöse Machtstrukturen und staatliche Gewalt unentwirrbar verschmolzen sind. Immer wieder öffnet sich diese dunkle Architektur zu einem Kreuz: nicht als Zeichen der Erlösung, sondern als Drohgebärde der Unterwerfung. Es ist ein Europa, das nicht mehr fragt, sondern diktiert. Und es ist beunruhigend gegenwärtig.

Die Inszenierung bleibt dabei unaufdringlich, aber tief reflektiert. Keine plakativen Aktualisierungen, keine grellen Effekte – Marelli vertraut ganz der inneren Modernität des Werks. Ein Kunstgriff. Denn Verdi braucht keine Kostüme von heute, um unsere Wirklichkeit zu treffen.

Der Kampf um Freiheit – Flandern, Ukraine, Europa

Im Zentrum der Handlung steht der politische und emotionale Konflikt zwischen Königsmacht und Freiheitsstreben. Don Carlo, Sohn des spanischen Königs, bittet um Autonomie für Flandern: „Majestät, ich bitte nur um eines: die Freiheit von Flandern!“

Diese Bitte durchzieht den gesamten Abend wie ein roter Faden – und hallt heute lauter denn je. Sie verweist auf aktuelle Unabhängigkeitsbestrebungen, auf den Krieg in der Ukraine, auf Menschen, die für Freiheit kämpfen und auf Regime, die diesen Wunsch mit Repression beantworten. Dass dieser dramatische Konflikt bereits 1867 mit solcher Präzision komponiert wurde, ist Verdis politischem Instinkt zu verdanken – und seiner Nähe zu Schiller.

Liebe, die im System zerbricht

Doch Don Carlo ist nicht nur politisches Musiktheater, sondern auch ein zutiefst menschliches Drama. Die Liebe zwischen Carlo und Elisabeth, einst Hoffnungsträger einer friedlichen Zukunft, wird im Namen der Staatsraison geopfert. Was als Verbindung von Herz und Krone gedacht war, endet in Entfremdung und Schweigen. Elisabeths Abschiedsarie im letzten Akt ist ein schmerzhafter Abgesang:„Die Freuden, die die Welt verspricht, sind ein trügerischer Schatten“.

In dieser musikalischen Klage liegt eine Erschöpfung, die man heute auch im Blick vieler Bürgerinnen und Bürger Europas erkennt: der Traum von Fortschritt, Sicherheit, gemeinsamer Werte – vielfach entzaubert durch Krisen, Rückschritte, Ohnmacht. Verdi gibt dieser Enttäuschung Stimme und Würde.

Musik als Brennglas: Orchester und Chor in Höchstform

Sir Donald Runnicles leitet das Orchester der Deutschen Oper mit ruhiger Autorität und dramaturgischem Feingefühl. Die Musik atmet, steigert sich, verzweifelt, rebelliert. Besonders in den Ensembleszenen verschmelzen Bühne und Graben zu einem einzigen, kollektiven Organismus. Der Chor – präzise, wuchtig, voller Klangfarben – ist nicht nur Begleitung, sondern handelndes Subjekt: das Volk, die Masse, das Echo.

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Die Arien, Duette und dramatischen Höhepunkte – insbesondere die Freundschaftsarie, Elisabeths Finale und der Monolog des Königs – rufen nicht nur Bewunderung, sondern echte emotionale Reaktionen hervor. Das Publikum erlebt nicht passiv, es ist Teil eines Geschehens, das weit über das Bühnenbild hinausweist.

Am Ende: minutenlange Standing Ovations. Kein höfischer Applaus, sondern ein Ausdruck kollektiver Ergriffenheit. Viele Gesichter im Zuschauerraum sind bewegt, nachdenklich, still. Man hatte das Gefühl, nicht nur Kunst erlebt zu haben – sondern eine Offenbarung über die Welt, in der wir leben.

Diese Aufführung von Don Carlo ist ein Meisterwerk, nicht weil sie perfekt ist – sondern weil sie relevant ist. Sie erinnert daran, dass Freiheit kein historisches Relikt ist, sondern eine permanente Aufgabe. Dass Politik ohne Ethik in Tragödien endet. Und dass Musik eine Sprache ist, die mehr sagen kann als jede Talkshow.

In einer Zeit, in der viele zu müde sind, um sich zu empören, ist Don Carl ein Weckruf. Und ein Beweis dafür, dass große Kunst nicht nur „schön“ ist – sondern wahr.